Sonntag, 26. April 2015

26. 04. 2015 - Trauermeldung

Am 25. April 2015 starb unser langjähriges Vorstandsmitglied Richard Mösslinger



   * 24.04.1951

   + 25.04.2015


Der in Leoben geborene Richard Mösslinger unterrichtete an der Volksschule Krieglach. Er veröffentlichte die Liedersammlung „Möchte singan a Liad“, den Gedichtband „Was is Lebm mia sagt“, war Mitautor bei mehr als 30 Anthologien, Liedertexter und Liederkomponist, schrieb Kinderlyrik und kleine Adventstücke für Schulen. 2013 erhielt er für sein Engagement in der Kulturarbeit das "Goldene Ehrenzeichen des Landes Steiermark".



Wunschgedanken
Ich möchte jede Träne trocknen,
die ob des Unfriedens verfloss.
Ich möchte Wogen glätten können,
wo ich dereinst ein DU verdross.
Ich möchte Licht in Herzen bringen,
in denen Dunkel breit sich macht,
bis jede Finsternis verschwindet ,
dass nur zufried’nes Leben lacht.

von Richard Mösslinger

 


Regentonnenvariationen von Jan Wagner



(c) Reinhard Mermi
Eine Rezension von Reinhard Mermi

Jeder kennt das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern von Hans Christian Andersen, in dem jeder Hofschranze und Untertan die (nichtvorhandenen) neuen Kleider des Königs lobt. So geschah es auch in diesem Jahr, als der Lyriker Jan Wagner den Preis der Leipziger Buchmesse für sein Werk „Regentonnenvariationen“ überreicht bekam. Doch wofür? Und weshalb jubelte der Hanser-Verlag mit den großspurigen Worten: „In seinem neuen Gedichtband vermisst Jan Wagner poetisch die Welt – von Schlehen im Frost bis zu Eseln in Sizilien.“ Oder die Jury sagte dazu: "Ein Gedichtband, in dem die Regentonne zur Wundertüte wird, der Giersch zur Gischt, Unkraut und unreiner Reim ihren Charme entfalten und die Lust am Spiel mit der Sprache vor den strengen Formen nicht Halt macht: Lyrik voller Geistesgegenwart“, und offensichtlich scheint das Gros der Gemeinschaft der deutschen Kritiker und Claqueure ein Spiegelbild des Andersen-Märchens abzuliefern, das beflissen Klappentexte abschreibt und nachplappert, was andere bereits gesagt und geschrieben haben. Offensichtlich auch um die Heimeligkeit ihres gemeinschaftlichen literarischen Umfelds und dessen Hermetik nicht zu beeinträchtigen.
Um die Qualität eines Gedichts zu beurteilen, braucht man sich nur eine einfache Frage stellen:
„Wird das Werk oder der Text noch in einhundert Jahren aktuell sein, den Leser auch dann noch erreichen oder bewegen?“ Die klare Antwort ist nein!

Ohne dem Preisträger die Beherrschung des Handwerks absprechen zu wollen, ist doch zu hinterfragen: Welchen Sinn macht Lyrik noch, wenn Banalitäten, Privates, Effekte haschendes Wort- und Sprachgeklingel, sich ihrer bemächtigen, Ödnis und Langeweile zum „Format“ erkoren werden?

geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch
schier überall sprießt, im ganzen garten giersch
sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.

Oder aus dem Gedicht „aus der globusmanufaktur“:

einmal verlegte ich mein pausenbrot
in einer südhalbkugel, die noch einzeln
und offen war, nun träumt ein junge, bohrt
sich in der nase, sucht die sandwich-inseln.

Die Verquickung der unterschiedlichsten Begriffsebenen ist nicht als überraschend sondern nur als abstrus – weil schlichtweg als banal zu bezeichnen. Im Ergebnis bleibe ich als Leser ratlos zurück und kann nur vermuten, dass in diesem Jahr der Hanser-Verlag „mit dem Buchpreis dran war“. Denn unter Lyrik verstehe ich etwas anderes als nur Prosa mit Zeilenumbrüchen. Oder ich habe bis heute nicht verstanden, was Lyrik eigentlich ist.

Reinhard Mermi
Blog-Redaktion

Frieden

von Thomas Mentzel

(c) Thomas Menthel
Erfreut registrierte ich heute morgen neben Rechnungen, Mahnungen und
Werbung einen Brief in meinem Postkasten. Ja, einen richtigen Brief
auf Papier. Geschrieben hat ihn der Herausgeber, gleichzeitig Verleger
einer Anthologie mit Texten zum Thema Frieden und er bittet mich um einen Beitrag.

Schließlich bin ich Autor und Lyriker, deswegen fallen mir ein paar
Zeilen gewiss nicht schwer. Kurz und knackig aber bitte und vor allem schnell, er hat für mich eine Seite bereitgehalten. Es gibt gutes Honorar und einige Auftritte im Rahmen der Buchpräsentation hat er ebenfalls reserviert.

Natürlich setze ich mich sofort an den Schreibtisch. Ich bin ein
friedlicher Mensch, gehe tunlichst jedem Streit aus dem Wege und bin
deswegen selbstverständlich geradezu prädestiniert für einen
derartigen Beitrag. Also, Computer hochgefahren und Schreibprogramm
aufgerufen; es kann losgehen.

Nun denn. Zuerst muss ich für Ruhe sorgen, meine Frau ist mit dem
Staubsauger beschäftigt weil sie meint, heute ist ein guter Tag für
den Hausputz. Okay, ich habe ihr den Stecker herausgezogen und sie
höflich gebeten, leise zu sein. Schließlich muss ich arbeiten. Draußen
vor dem Haus ist es windig, die Fenster stehen offen, - vielleicht
rutschte mir deswegen die Klinke aus der Hand und die Tür knallte mit voller Wucht ins Schloss. Wer weiß.

Ich jedenfalls habe meine Ruhe und kann mich entspannt dem Thema
Frieden widmen. Immerhin schaffe ich es, das Wort als Überschrift zu
tippen und mir ein paar grundlegende Gedanken zu machen. Zum Beispiel,
wieso auf einmal kein Aschenbecher neben meinem Computer steht.

So kann ich nicht schöpferisch tätig sein, das weiß meine Frau genau.
Aufgestanden, an den Schrank und einen neuen herausgeholt. Meine Frau
ist mit der Zubereitung der Mahlzeit für unseren fünfjährigen Zögling
beschäftigt, dieser mag jedoch nichts essen. Kann man verstehen, wenn
der Papa nicht dabei ist und deswegen nichts bekommt. Aber dessen
ungeachtet: Ich muss arbeiten, da soll er schweigen. Das erkläre ich
ihm eindringlich. Er versteht es und heult los. Es zieht übrigens
immer noch.

Ruhe, Frieden. Wie schön. Stille zum schreiben. So lange jedenfalls,
bis unsere gemeinsame Tochter aus der Schule kommt. Nicht, dass ich
etwas dagegen habe, wenn sie Musik hört. Aber Zimmerlautstärke
bedeutet, dass die Töne in ihren vier Wänden bleiben. Folglich bin ich
hinübergegangen, habe wortlos die Anlage ausgeschaltet und mich wieder
an meine Schreiberei begeben. Habe ich eigentlich erzählt, dass es ein
sehr windiger Tag ist und alle Fenster geöffnet sind? Ich würde
niemals absichtlich mit den Türen knallen.

Friedliche Geräuschlosigkeit im ganzen Haus. So muss es sein. So kann
ich schaffen. Warum nun mein Nachbar meint, er soll ausgerechnet um
diese Zeit seinen Rasen mähen, bleibt mir unverständlich. Ein wenig
Rücksicht kann ich erwarten, oder? Ich gehe zu ihm hin, um zu
erklären, dass dies nicht geht. Es gibt andere Zeiten, nur weil er
Rentner ist, darf er nicht machen was und wann er will. Als er mir
darauf antwortet, dass ihn meine Arbeitszeiten herzlich wenig
interessieren, fällt mir aus Versehen der Spaten mit der scharfen
Kante direkt auf seine Verlängerungsschnur. Wirklich nur ein Versehen.
Ich selbst käme niemals auf eine derart kämpferische Idee.

Zurück im Haus rutschte mir schon wieder die Klinke aus der Hand. Es
weht wirklich heftig.
Klasse. Es geht nichts über ein stilles, friedliches Umfeld. Wo kommen
auf einmal die Fliegen her? Starfighter und Phantom sind überhaupt
nichts gegen deren Lautstärke. Hilft nur blanke Gewalt. Wofür habe ich
Stern und Spiegel abonniert? Klatsch. Klatsch. Geschafft.

Endlich. Ich kann mich an den Schreibtisch setzen. Worum geht es? Ach
ja, „Frieden“ blinkt auf dem Bildschirm. Ich starre auf das flackern.
Schwarz „Frieden“, der Rest des Bildschirms ist weiß.

Habe ich bereits erwähnt, dass ich ein friedliebender Mensch bin, der
jedem Streit aus dem Wege geht? Ja? Wutausbrüche sind mir fremd. Aber
mir fällt nun gerade nichts mehr ein. Ist es ein Wunder, wenn ich
aggressiv werde? Überhaupt, „Frieden“. Darüber schreibt man nicht, der
herrscht. Nee, der doofe Verleger bekommt jetzt einen Brief von mir.
Den „Frieden“ kann er sich sonst wo hin. Und ich gehe spazieren.
Übrigens, es ist wirklich windig. Ich würde niemals Türen knallen.
Tschüss! 
 
Weiterführende Links:
Thomas Mentzel auf Facebook
Die neuen Leiden der alten Wörter 

bergen-belsen



von Reinhard Mermi 

mit jedem ring umhüllt
die zukunft ihre ver-
gangenheit läßt
bäume im erinnern
wachsen im fieder-
grün der gegenwart

gedanken tropfen her-
ab aus harziger rinde
kostet man der erde
bitterkeit

(2009)


Weiterführende Links:
Reinhard Mermi auf Facebook




Plastiknapf für KZ-Überlebende, Porzellan für die Promis

Passend wurde auf Facebook der Vorfall kommentiert (Zitat): "Meine Freundin war eine der freiwilligen Helfer bei diesem Anlass. Tatsächlich war einiges ziemlich mies organisiert. Zum Amüsement der sehr goldigen Holocaustüberlebenden übrigens: "Als die Deutschen uns vor 70 Jahren umbringen wollten, waren Planung und Ausführung perfekt, heute kriegen sie nicht mal ein Kaffee-Gutscheinsystem geregelt. Eigentlich beruhigend." <Lautes Gelächter in der Gruppe.>"

Etwa 90 Überlebende nahmen an der Gedenkfeier zur Befreiung des KZ Ravensbrück teil. Viele von ihnen mussten ihr Mittagessen aus Plastikschüsseln einnehmen - während Promigäste vergleichsweise fürstlich tafelten.

Wie der Stern-online gestern (25.04.2015) berichtete, wurden auf der Gedenkfeier im KZ Ravensbrück die Promis hofiert und die Überlebenden wie Statisten abgespeist. Die Ex-Häftlinge mussten für Eintopf Schlange stehen, während die Polit-Prominenz tafelte.




Weiters schreibt der Stern: "Aus einem Akt der Erinnerung und Begegnung zum Gedenken an die Befreiung des KZ Ravensbrück wurde ein Lehrstück in Polit-Verdrossenheit. Sie lief ab, als hätte man das Dichterwort von Wasser predigen und Wein trinken, illustrieren wollen...."

hier geht's weiter

Weiterführende Links
Zeit-online: Die Scham nach dem KZ-Gedenken
Ravensbrück - Historischer Rückblick



Samstag, 25. April 2015

"Mit freudigem Stolze" - Die Deutsche Bücherei

Alexander Skipis
Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins
des Deutschen Buchhandels.
(c) Claus Setzer


Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. ist weltweit der einzige Verband, der alle drei Handelsstufen unter einem Dach vereinigt – Verlage, Buchhandlungen, den Zwischenbuchhandel, Antiquariate und Verlagsvertreter. Er versteht sich als Sprachrohr der Buchbranche und steht Öffentlichkeit und Politik beratend zur Seite. Als Berufsverband setzt sich der Börsenverein für wirtschaftlich und politisch optimale Rahmenbedingungen im Sinne seiner Mitglieder ein.

Am 3. Oktober 1912 wurde in Leipzig der Börsenverein des Deutschen Buchhandels gegründet."Mit freudigem Stolze" hieß es damals. Lest hierzu den Bericht von C. Staniek (Börsenblatt.net vom 24.04.2015).  hier geht's weiter


Dienstag, 21. April 2015

Der Fischer von Locronan



Von Insa Segebade

 
Deine Stimme war es, in die ich mich zuerst verliebte. Sie war überhaupt das Erste, was ich von dir wahrnahm. Damals, am Hafen von Morgat. Ich saß auf der Mole und zeichnete als Fingerübung eine rote Katze, versperrte dir dabei den Weg, als du mit einer Kiste Langusten vorbei wolltest. „Excusez-moi, Mademoiselle“, sagtest du, und ich spürte, wie deine Stimme, wie du tief in mich eindrangst und dort etwas zum Schwingen brachtest, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass es da war. Der Bleistift rollte mir aus der Hand, landete leise platschend im Wasser. Ein Windstoß nahm das Papier mit sich fort, nahm alles mit sich fort, was ich bis dahin für wichtig gehalten hatte, um Platz zu machen für Neues, nein, Anderes, denn neu – das war mein Leben an deiner Seite nicht. Eher war es so, dass ich dich gefunden, endlich wieder gefunden hatte. Als ich aufsah, verrieten mir deine Augen, grau-grün wie die See, dass du genau so empfandest. Du stelltest die Kiste mit den Langusten ab und reichtest mir die Hand. Eine große, raue Hand voller Schwielen, nach der ich ohne zu zögern griff. Gewiss, sie nie mehr loszulassen. Gewiss, nie mehr von ihr losgelassen zu werden.
Du lebtest allein in dem kleinen Haus oberhalb des Strandes von Locronan. Dein Großvater hatte es gebaut. Ganz schief war es inzwischen, zur Landseite gebeugt, als habe es irgendwann dem Sturm, der vom Meer kam, seufzend nachgegeben. Aus einem einzigen Raum bestand das mit Schieferplatten gedeckte Haus. Über dem Kamin zog sich ein Riss durch die Wand, durch den, scharf wie ein Messer, ein Strahl der untergehenden Sonne drang. Der Boden war so schräg, dass ich das Gefühl hatte, auf schwankenden Deckplanken zu gehen. Als du die Tür öffnetest und vor mir hineingingst, fiel dir eine Konservendose aus der Armbeuge. Sie kullerte längs durch den ganzen Raum, bis sie auf der gegenüberliegenden Seite unter dem Geschirrschrank liegen blieb.
Noch am selben Tag, als wir uns auf der Pier in Morgat trafen, ludst du mich zu dir ein. Während du kochtest, fragtest du, ob es unschicklich sei, bei dir zu essen, anstatt mich in ein Restaurant auszuführen. Ich zerstreute deine Bedenken mit einem Lächeln und schaute mich in dem kleinen Haus um, in dem nur ein alter, gusseiserner Herd stand, auf dem es in drei Töpfen leise vor sich hin brodelte, ein hölzerner Tisch mit zwei Stühlen, ein Bett mit zahlreichen Decken und Kissen sowie ein Geschirrschrank aus dunklem, glänzendem Holz, in dem bunt bemalte Teller standen, von denen bereits deine Vorfahren gegessen hatten, wie du mir erklärtest.
Ich weiß nicht mehr, wie viel Tassen Kaffee, wie viel Gläser Wein wir nach dem Essen tranken. Als ich mir ein kleines Gähnen nicht verkneifen konnte, ging bereits die Sonne auf. Du warst bestürzt, weil du mich um den Schlaf gebracht hattest. Wieder zerstreute ich deine Bedenken mit einem Lächeln, bot an, den Abwasch zu machen, während du deine Gummistiefel anzogst und dich bereit machtest, mit deinem kleinen Boot hinauszufahren.
Bald standen die Teller wieder ordentlich im Regal des Geschirrschranks, das schwere Silberbesteck in der mit purpurnem Samt ausgeschlagenen Schublade darunter. Ich weiß, ich hätte es nicht tun sollen, aber der Wunsch, mehr von dir zu erfahren, war größer. Also zog ich auch die unteren beiden Schubladen auf. Was hatte ich erwartet? Dokumente, Briefe, Fotoalben, ein Tagebuch vielleicht? Aber da war nichts außer ein paar Hosen und Hemden zum Wechseln. Mehr nicht, wunderte ich mich und verschloss verschämt die Laden.
Als ich mich aufrichtete, fühlte ich eine bleierne Schwere in meinen Gliedern und ließ mich zwischen all die Decken und Kissen auf dein Bett fallen. Ich glaubte noch, ein sanftes Singen zu hören, bevor ich tief und fest schlief. Ich erwachte erst, als du zur Tür hereinkamst. Noch benommen vom Schlaf, entging mir doch nicht das Lächeln auf deinem Gesicht, als du mich sahst.
Um nichts auf der Welt hättest du es verlassen und im Stich gelassen, das kleine Haus oberhalb des Strandes von Locronan. Du fühltest dich sicher in seinen Wänden, unter seinem Dach. Nachts, wenn der Sturm an den Fensterläden rüttelte und das Haus ächzte und ich mich ängstlich an dich schmiegte, lachtest du nur. „Keine Angst“, sagtest du in der Gewissheit, dass deine Vorfahren nicht zulassen würden, dass die grob behauenen Natursteine, aus denen sie das Haus wie ein Puzzle zusammengesetzt hatten, uns unter sich begraben würden.
Das Tuscheln der anderen nahmst du nicht wahr. Auch ich versuchte, es zu überhören, begann aber bald, nachdem ich bei dir eingezogen war, unser Brot selbst zu backen. Nur einzelne zusammenhanglose Worte stahlen sich aus dem Zischen und Säuseln ihrer Münder in mein Ohr. Nur einmal verstand ich, wie die Alte aus dem Nachbarhaus sagte, während ich an ihr vorbeiging: „Wenigstens keine Kinder. Es ist genug.“ Ich hätte einfach meinen Weg fortsetzen sollen, doch ich blieb stehen, sah die Alte an, die meinem Blick trotzig standhielt.
„Die alte Laure. Sie ist harmlos“, sagtest du kopfschüttelnd, als ich dir davon erzählte. Harmlos im Vergleich zu den Leuten in der Stadt, in der du damals studiertest. Du warst ein Außenseiter. Sie merkten, dass du anders warst, obwohl du versuchtest, wie sie zu sein. Aber du konntest es nicht verbergen und kamst zurück. Zurück an den Ort, an dem man wusste, dass die Dubois’ eben anders waren, aber nie jemandem etwas zuleide taten. Wir haben sie nie verlassen, unsere Halbinsel, und gingen den Hauptstädtern, die in den Sommermonaten einfielen, aus dem Weg.
Anfangs dachte ich, sie trieben ihre Späße mit dir, wenn sie dir Grüße an deinen Vater und deinen Großvater auftrugen. Aber nein, es war ernst gemeint, stellte ich mit der Zeit fest. „Sie glauben tatsächlich, dass in unserem kleinen Haus eine Großfamilie lebt“, sagte ich. Du lächeltest nur. Wusstest, dass ich noch nicht bereit war zu verstehen. Sicher hast du gehofft, dass ich es wäre, als der Sturm dein Boot wie einen Ball auf den Wellen hin und her warf, mit ihm spielte wie eine Katze mit einer Maus spielt, nur um es schließlich an den Klippen zerschellen zu lassen.
Von meinen Träumen hatte ich dir nicht erzählt. Ich hatte Angst, dass du sie mit einem Lächeln abtun könntest. Ahnungen und Visionen? Nein, die könne ein Stadtmensch wie ich nicht haben, glaubte ich bereits deine Stimme zu hören. Diese Gabe ginge im Lärm, im Stress, in der Hektik unter. Mag tatsächlich sein, dass es auch bei mir einmal so war. Mag sein, dass ich es so gewollt hatte – nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu begreifen. Aber das ist vorbei. Jetzt bin ich eine von euch. Doch zuerst schüttelte ich meine Träume nach dem Erwachen ab wie die Decken, unter denen wir nachts lagen. Aber dann kamen sie auch tagsüber, überlagerten das Hier und Jetzt, ließen es erstarren, verblassen. Als ich dich bat, nicht hinauszufahren, sahst du mich nur verwundert an.
Ile d’Ouessant heißt die Insel an der Westküste der Bretagne. Seeleute umfahren sie in einem weiten Bogen, die Ile d’Ouessant. Sie ist von einem Gürtel aus Riffs umgeben, der schon unzählige Schiffsrümpfe aufgeschlitzt hat. Hier fand man dich nach drei Wochen. Eingeklemmt zwischen zwei Felsblöcken, deren Spitzen nur bei Ebbe zu sehen waren. Noch immer trieben die Wellen ihren Schalk mit dir, stupsten dich an, ließen dich einen makaberen Tanz aufführen und dich mit schlaffem Arm der Fähre zuwinken, die eine Horde Touristen zurück nach Le Conquet brachte.
Sie sagten, es sei ein Glück, dass man dich fand und auf dem Friedhof in Morgat beerdigen konnte, denn die meisten, die die See sich nimmt, gibt sie nicht mehr frei. Wie deinen Vater und deinen Großvater. Glück? Was verstanden sie unter Glück? Du warst fort. Anfangs tat ich so, als seiest du noch da. Als seiest du nur mit dem Boot hinaus und würdest gleich zur Tür hereinkommen. Vergebens. Dann redete ich mir ein, du wärst noch da, und ich könnte dich nur nicht sehen. Ich schrieb dir Briefe und wusste nicht, wohin ich sie schicken sollte. Ich redete in die Stille und bekam keine Antwort. Nur das Echo des scheppernden Kupferkessels, den ich wütend an die Wand warf, hallte in meinem Kopf nach.
Ich wollte fortgehen. Was zählte sie noch, die Schönheit, die mich hier umgab, wenn du nicht da warst, um sie mit mir zu teilen? Aber das Meer, sein ewiges Rauschen, es hielt mich. Nachts, wenn ich allein zwischen den klammen Decken und Kissen lag, die meine Körperwärme allein nie zu erwärmen vermochte, und keinen Schlaf fand. Wenn ich mich nach deinen Händen, deinen rauen Händen voller Schwielen sehnte, die mich in der Nacht zärtlich hielten. Nach deinem Mund, der mich liebkoste. Deinem Leib, der mich bedeckte. Ein stetiges tiefes Brummen im Hintergrund, davor das höhere Geräusch, der Sopran der sich brechenden Wellen, die im Sand ausliefen. Dazwischen deine beschwörende Stimme. „Bleib“, wispertest du, „geh nicht fort! Ich bin hier.“
Dann diese Nacht im November. Zitternd und frierend verbrachte ich sie auf einem Felsen am Strand von La Palue. Ich hatte auf die Flut gesehen, die Zeit vergessen, war plötzlich vom Wasser eingeschlossen, hinter mir eine steile Felswand. Im Licht des Mondes veränderte sich ein Vorsprung, die Zacken im schwarzen Basalt wurden lebendig, wurden zu Gesichtern, Hunderten von Gesichtern mit weit aufgerissenen Mündern, den Gesichtern Ertrunkener, unter denen ich auch deines zu erkennen glaubte, obwohl dein weit aufgerissener Mund, aus dem Stille quoll, deine Züge verzerrte.
Nachts, du kamst nur nachts, doch war ich lange nicht bereit, dich zu empfangen. Zu groß die Angst, deinen aufgequollenen, von den Felsen zerschnittenen Körper zu sehen, in dem jeder einzelne Knochen zerschmettert war. Die Augenhöhlen leer, Seetang in den Haaren, die Haut durchsichtig, marmorn, dein Gesicht, ich würde nicht wagen, hinein zu sehen. Hinein zu sehen in das Gesicht, das doch alles war für mich. Schöner als jedes Gemälde, als jeder Sonnenuntergang. Und was, wenn du nicht allein kämst? Was, wenn deine Vorfahren bei dir wären?
Was ich nachts fürchtete, sehnte ich am Tage herbei. Nein, ich lasse mich nicht gehen, sei ganz beruhigt. Unser Haus halte ich sauber, tausche die Schindeln aus, wenn sie zerbrechen, streiche die Fensterläden und die Wände, wenn der Schimmel sie schwarz färbt. Nur die Alte von nebenan, Laure nanntest du sie, der gehe ich aus dem Weg. Aber neulich, da eilte sie in ihr Haus, als sie mich sah, um gleich darauf mit einem Bild in der Hand wieder herauszukommen. Sie rief mich. Zögernd näherte ich mich ihr. Zu langsam ging ihr das. Sie kam mir entgegen, drückte mir wortlos das Bild in die Hand, ein schwarz-weißes Foto, vergilbt und schon ganz verknickt, als hätte es in einer Ritze zwischen zwei Steinen gesteckt. Ich erkannte ein Hochzeitspaar. Seiner Kleidung nach zu urteilen, musste das Bild vor etwa achtzig Jahren aufgenommen worden sein. War es Laures Hochzeitsfoto? Ich warf noch einen flüchtigen Blick darauf, aber die Alte wies resolut meinen Arm zurück, als ich ihr das Foto zurückgeben wollte. „Schauen Sie genau hin, auf die Gesichter.“
Ich seufzte und schaute auf den ernst dreinblickenden Mann. Groß war er und von kräftiger Statur, seine Augen schienen selbst auf dem alten Foto zu leuchten. Und seine Züge ... nein, das konnte nicht sein, sagte ich mir und ließ meinen Blick weiterwandern zur Braut – und erstarrte. Nein, auch das konnte nicht sein, musste ein dummer Zufall sein. „Sein Urgroßvater und seine Urgroßmutter“, hörte ich die Alte sagen. Aus weiter Ferne kam ihre Stimme, dabei stand sie doch direkt neben mir. „Das Hochzeitsbild seiner Großeltern und seiner Eltern hätte genau so ausgesehen. Nur die Kleidung wäre eine andere gewesen. Aber da haben sie keine Fotos mehr gemacht. Haben Sie ein Hochzeitsbild?“ Ich schüttelte den Kopf. „Dann behalten Sie das. Kommt ja irgendwie aufs Gleiche heraus.“ Die Alte schlurfte in ihr Haus zurück, und ich ... ich stand da wie versteinert und wagte nicht, noch einmal auf dieses Bild in meiner Hand zu sehen. Ich hielt es weit von mir und vertraute es dem Wind an, als eine Böe mir die Haare ins Gesicht blies.
Dann fühlte ich diese Ruhe. Und mit ihr schwand die Angst. Und du, du warst mir willkommen. Dein Grab, das besuchte ich nicht mehr. Wozu auch? Komm zu mir, mein Gelieber. Komm dorthin, wohin du gehörst. Ich fürchte mich nicht mehr. Egal, ob es Tag ist oder Nacht. Egal, ob dein Leib zerschunden ist oder unversehrt. Ich weiß, du wirst mir nichts tun. Und wenn doch ... was gäbe es Schöneres, als auf diese Weise aus dieser Welt zu scheiden. Was sagst du, Geliebter? Ja, sei nicht ungeduldig, ich komme doch. Ich reiche dir meine Hand, streichle dir deine kalte Wange, küsse dir das Salzwasser von der Stirn, hauche deinen blauen Lippen Leben ein. 




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