Dina Sikirić
„Was den Fluss bewegt“
Erzählung, Waldgut – zoom CH 8500 Frauenfeld
ISBN 978-3-05740-115-6, CHF 24,- € 22,-
Ein etwa fünfjähriges Kind mitsamt Mutter aus dem heimatlichen
Kroatien „herausgerissen“ und auf Fahrt in neues, ein fremdes Ankunftsland. In
einem Nebensatz erfährt man, dass die Mutter anscheinend vor einer Liebe flieht
und im Ankunftsland ein neues Leben beginnt. Die Mutter muss arbeiten, das
Mädchen muss „aufbewahrt“ werden. In der Eile und unter dem Druck der
Verhältnisse landet die Kleine bei Klosterschwestern in einem Heim. Erfährt
dort das neue Land, die neue Sprache, auch die neue Religion – die Familie ist
muslimischer Religion – mit allen Problemen, die so ein radikaler Wechsel von
Zagreb nach Basel für Mutter und Kind mit sich bringt.
Nun ist hier ein Einschub notwendig:
Wir kennen seit dutzenden von Jahren die Erzählungen, Romane,
Beschreibungen vom Leben in Klosterschulen, jede Autorin, jeder Autor der
Jahrgänge 1945 bis 1960 hatte irgendwo die Erlebnisse der Klosterschule, musste
diese dann literarisch verarbeiten und breit treten. Eigenartig, dass trotz
aller dieser Klagen, oft sogar Beschimpfungen der Klosterschulen, des Lebens in
solchen „Aufbewahrungsheimen“ der Drang zu derartigen Institutionen ungebrochen
ist. Gerade jene, die eigentlich ganz anders sozialisiert wurden, trachten
heute mit Vehemenz, ihre eigenen Kinder in den kirchlichen Privatschulen
unterzubringen, nehmen die oft enormen Kosten gerne in Kauf, nur um dem Kind,
na ja was denn eigentlich? Da werden solche Berichte dann doch
hinterfragenswert.
Doch verlassen wir den Einschub, kehren wir zur Erzählung von Dina
Sikirić zurück. Es fehlt dem Kind jede Form von Liebe und
Zuwendung im klösterlichen Heim, die (üblichen) Wasch- und Baderituale werden
auch in dieser Erzählung ausführlich geschildert, ja wir kennen die
Leibfeindlichkeit der katholischen Ordensschwestern nun schon zur Genüge, eine
neuerliche Aufzählung macht diese Geschichte nicht spannender. Penibel
schildert die Autorin den langen, ganz in Weiß gehaltenen Schlafsaal, den
Verschlag hinter dem die Aufsichtsschwester schläft oder vielmehr wacht. Die
Stimmung ist bedrückend und es ist verständlich, dass in den zweiten großen
Ferien, die das Kind im neuen, im Ankunftsland erlebt, endlich die Reise in das
Herkunftsland mit großer Begeisterung erfolgt. Die Freude aller, auch den
geschiedenen Vaters, das Erleben eines Sommers mit Sonne. Meer, Zärtlichkeiten,
Umarmungen, Küssen lässt die schwarzen Vögel im Heim vergessen. Nach dem Ende
der Ferien, die Rückkehr in das Ankunftsland, und diesmal nicht mehr in das
klösterliche Heim, sondern in eine öffentliche Tagesheimstätte. Alles wird
anders, farbenfroh, schöner, lebendiger, doch die Frage des Kindes, was denn
nun den Fluss wirklich bewegt, bleibt ohne gültige Antwort.
Die Autorin verwendet eine sehr schöne, gepflegte Sprache für
die Schilderungen aus der Sicht des Kindes, sie erinnert sich sehr genau an
ihre Erlebnisse, reflektiert diese und versucht sie ohne Verurteilungen
darzulegen. Natürlich, es bleibt nicht aus und wird auch von Rezensenten nicht
weiter beanstandet, dass die heimatliche Situation oder, um in der Sprache der
Autorin zu bleiben, die unvergleichlich schöneren Gegebenheiten im
Herkunftsland in den glühendsten Farben gemalt werden. Es ist köstlich und
entbehrt auch nicht einer gewissen Komik, wenn das kleine Mädchen den Besuch in
der heimatlichen Moschee mit dem Kirchgang der Klosterschwestern vergleicht.
Da, das Knien auf den harten Kirchenbänken mit gefalteten Händen und
unverständliche Formeln der fremden Sprache mitmurmeln, dort, das „Verschwinden
zwischen den Hügeln, die ihre Hintern bildeten, wenn sie sich gemeinsam nach
vorn beugten“ (S 20) und dabei „die Düfte all der Körper und Stoffe, die mich
umgaben, einsog“ Nun ja, lassen wir die kindliche Erinnerung der Autorin
gelten, wer einmal erlebte, wie die eng aneinander gereihten Menschenmassen
nach Schweiß und anderem gerochen haben, wird von den Düften nicht mehr
schwärmen. Doch, wie gesagt, lassen wir dem Kind die Freude. Wie wird es
werden, mit den unterschiedlichen Kulturen des Herkunfts- und den
Ankunftslandes? Das Kind hin und her gerissen, denn niemand kann ihm sagen „was
den Fluss bewegt“ Fremdsein, Anderssein, gerade heute wieder von hoher
Aktualität, kann und muss nicht nur bedrohlich und schmerzhaft sein. Es kann
auch zu neuen Perspektiven führen, Türen aufstoßen zu neuen und anderen Welten.
Die Autorin, 1955 in Zagreb geboren, in Basel aufgewachsen, an
der Schauspielakademie in Zürich studiert, eine Kosmopolitin im umfassendsten
Sinne (Sprachen: persisch, spanisch, portugiesisch, italienisch, ...) lebt seit
2007 wieder in Basel, in ihrem damaligen Ankunftsland.
Der Waldgut Verlag hat auch diesen Band wieder mit der dem
Verlag eigenen Sorgfalt ausgestattet bzw. hergestellt. Der Rezensent hatte nun
schon mehrere Bücher des Verlages bekommen und ist immer noch (oder immer
wieder) von der handwerklich gediegenen Ausstattung, und Gestaltung begeistert.
Es ist immer schön, solche Bücher in der Hand zu haben!
Hans Bäck
Europa Literaturkreis Kapfenberg
PEN – Trieste
Im Dezember 2016
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen